Wir leben in einer Gesellschaft, die sich
derzeit einem Wirtschafts-, Effizienz- und Ökonomiediktat unterwirft.
Humanistische Werte rücken immer mehr in den Hintergrund und werden zunehmend als
nicht leistbarer Luxus betrachtet. Diese Entwicklung erzeugt nicht zuletzt auch
aus therapeutischer Sicht zunehmend große Probleme.
Parallel dazu hat sich unsere Gesellschaft
einer Wissenschaftlichkeit verschrieben, die immer mehr spezifische Methoden entwickelt
und voneinander abgrenzt. Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Eine Methodik
ist immer eine Vereinfachung der allzu vielfältigen und zu kompliziert
ineinander greifenden Vorgänge des „Lebens“, zum Zweck, einen Teilbereich
besser zu erfassen und mit ihm besser umgehen zu können, ihn auch handhabbar zu
machen.
Wenn wir das aber auf den Umgang mit dem
Menschen übertragen, entsteht eine Zerstückelung in mechanistische Einzelteile
des Lebendigen, die speziell im Bereich des Psychischen zunehmend mehr schadet
als nützt. Menschen leiden immer mehr unter der Anforderung, zu vielen
unterschiedlichen, oft auch einander widersprechenden Rollenbildern gerecht
werden zu müssen (es wurde auch dementsprechend für ausgeprägtere Prozesse
dieser Art der Begriff des „Multiple-Personality-Syndromes“ definiert.)
All das drückt sich sprachlich unter anderem in
einer „Substantivierungstendenz“ aus: früher ist man beispielsweise einfach
aufs Rad gestiegen und losgefahren, heute schlüpft man in eine spezielle
Kleidung, um mit einer speziellen Ausrüstung, die sich deutlich vom alltäglich-Gebrauchsentsprechenden unterscheidet, möglichst
in einer eigenen Biking-Area dem Biking
zu frönen - ein Biker zu sein. Später besucht man vielleicht einen Kurs für
Management oder betreibt Lobbying als tougheR
InteressensvertreterIn für eine bestimmte
Gruppierung, in deren Identität man nun wieder hineinschlüpft, abends muss man
als sanft einfühlsamer Familienvater/Mutter eine gute (in diversen Themen- und
Fachillustrierten definierte) Rolle spielen, etc.
Diese Aufspaltungstendenz erzeugt auch
Entpersonalisierung und Identitätskrisen – welche der Personen bin ich nun
wirklich, wie kann ich sie trennen, wie bekomme ich sie trotzdem unter einen
Hut?
Eine weitere wissenschaftliche Entwicklung ist
der Trend zur „evidence-based science“ in Medizin und
Psychologie:
Diese beschäftigt sich aber immer mit der
„großen Zahl“ - möglichst in die zehntausende gehend, und nicht mit der
Besonderheit des Einzelnen. Die Psychotherapie schließt sich hier in ihrem
Kampf um Positionierung in der wissenschaftlichen Landschaft notgedrungen an.
Das bedeutet wiederum ein Übertragen dieser Denkart auf den Umgang mit Personen
und Persönlichkeiten und wirkt zusätzlich entindividualisierend und entpersonalisierend.
Dieses Geschehen betrifft Menschen mit
Behinderungen ganz besonders hart.
Zum einen: Alle, die mit behinderten Menschen
zu tun haben, wissen, zu wie vielen Fachleuten diese im Laufe ihres Lebens
schon geschickt worden sind, und oftmals haben sie sogar widersprüchliche
Diagnosen und Therapieempfehlungen bekommen.
Dementsprechend gibt es dann auch Woche für
Woche (zu) viele, oft unzusammenhängende Therapieeinheiten - eine Überpragmasie, die für alle anderen Bereiche des Lebens und
der ganz gewöhnlichen persönlichen Bedürfnisse keinen Raum mehr lässt.
Zum anderen: Diese Menschen sind oft abhängig
von HelferInnen und können sich aus dem
Abhängigkeitsverhältnis heraus oder auch aus anderen Gründen schlecht gegen
obiges wehren, werden verniedlicht, bemitleidet, verschont, somit also auf die
eine oder andere Weise nicht „für voll genommen“ etc. (selten aus böser, meist
aus guter Absicht, oft aber aus Unwissenheit heraus.)
Das alles zusammen wirkt in hohem Maße
zerstückelnd – desintegrierend und entpersonalisierend, entmutigend,
deprimierend …..
Da wir PsychotherapeutInnen von unserer
Grundausstattung her eine besondere Sensibilität für solche intrapsychischen Vorgänge
und zwischenmenschlichen Interaktionen haben, und auch ExpertInnen für
psychische Integration sind, wären wir auch (trotz der oben genannten Wissenschaftstrends immer
noch) besonders gut geeignet, mit behinderten Menschen und deren Umfeld an Reintegration
und Individualisierung zu arbeiten. Darüber hinaus wäre es wichtig, bei allen
beteiligten professionellen und nicht professionellen Kontaktpersonen
Bewusstsein für diese Vorgänge zu schaffen, um es gar nicht soweit kommen zu
lassen.
Auch ist ein Wechsel der Herangehensweise
anzustreben: in manchen Bereichen ein Stück weg von dem defizitorientierten
Training mangelnder Fähigkeiten hin zu Nutzung und Unterstützung der
vorhandenen besonderen individuellen Fähigkeiten.
Unsere Aufgabe kann auch das Finden einer
„Öko-Nische“ sein, in der sich der Betroffene mit seinen Fähigkeiten halbwegs
nützlich, wertvoll und/oder gebraucht fühlen kann.
Wir könnten koordinieren, supervidieren
und dabei prüfen, ob die Förderkonzepte für die behinderten Menschen möglicherweise
durch bisweilen stattfindende Überfo(ö)rderung Unlust - und daher Abwehr oder Schaden anrichten
(weniger wäre in diesem Fall mehr).
Wir könnten Kommunikationskanäle zwischen allen
Beteiligten entwickeln helfen.
Unser Arbeitskreis will Menschen mit
Behinderung und solche, die mit behinderten Menschen arbeiten, unterstützen.
Wir wollen auf einige Besonderheiten in dieser
Arbeit aufmerksam machen, auch überhaupt Bewusstsein schaffen für das tägliche
Leben, und den Interessierten das Wissen zugänglich machen:
Hörbehinderte und sehbehinderte Menschen haben aufgrund ihrer besonderen
sinnlichen Weltwahrnehmung auch eine besondere Begriffsbildung, eine besondere
interne Abbildung der äußeren Welt, eine besondere Ich-Identität und einen
besonderen Ich-äußere Welt-Bezug. Sie sind nicht einfach Menschen wie Du und
ich, die halt bloß nicht sehen, hören...
Sie haben im Gegenteil oft andere Fähigkeiten, die ein Sehender/Hörender nicht
ahnen kann.
Menschen mit Lernschwierigkeiten (–
intellektuellen Beeinträchtigungen) sind ganz besonders individuellen Prozessen unterworfen, lassen
sich gelegentlich sogar nur in Syndromen
beschreiben, die wenige Male auf der ganzen Welt vorkommen und mit „evidence-based-methods“ oder mit „Methodenreinheit“ nicht
zu erfassen sind. (Jemand mag etwa kaum eine „Ich“ Funktion haben, das heißt
aber noch lange nicht, dass er/sie auch keine Psyche hat oder kein
Emotionalleben. Eine Methode, die stark auf den Umgang mit dieser Ich-Funktion
setzt, versagt.)
Diese – und überhaupt alle Formen der
Behinderung haben ganz individuelle beachtenswerte Eigenheiten, die sich nicht
auf Anhieb erschließen.
Das heißt aber zugleich: Methodenvielfalt und
der fundiert-flexible Umgang damit ist sehr
wünschenswert.
Ökonomische, effizienzorientierte
Vorgangsweisen versagen hier meist kläglich.
Auch im Bereich von körperlichen Behinderungen gibt es viel zu beachten.
Beispielsweise RollstuhlfahrerInnen haben es of schwer, da das öffentliche
Bewusstsein für solche Menschen und deren Notwendigkeiten sehr gering
ausgeprägt ist. Für andere eine kleine Unachtsamkeit, etwa in der Garderobe am
Boden herumliegende Schuhe oder Taschen, werden für RollstuhlfahrerInnen
zu einem großen Hindernis. Toiletten mögen in einer Etage von einer Institution
oder einem Veranstaltungsplatz erfreulicherweise rollstuhlgerecht gestaltet
sein, aber der Halbstock, in dem sich der Platz befindet, ist ohne Stufen nicht
erreichbar. Vielleicht sind auf einer öffentlichen Linie auch rollstuhlgerechte
Züge im Einsatz – vielleicht jeder dritte – das heißt aber wesentlich längere
Wartezeiten, Verbrauch von Lebenszeit!
Geht bei einem Umbau ein Lift nicht – ein anderer Mensch geht halt für die Zeit
des Umbaus zu Fuß, für einen Rollstuhlfahrer ist der Ort jetzt unerreichbar.
Schmale Behelfsübergänge, Behelfsdurchgänge, Bretterstege machen den Weg
unpassierbar.
In der Psychotherapie
selbst geht es auch
um eine speziell schwierige Unterscheidung: was geht auf die tatsächliche
Behinderung zurück, was ist schlicht und einfach ein „gewöhnlicher“
psychodynamischer Prozess (bis hin zur „ganz gewöhnlichen“ Neurosenbildung und
deren Behandlung).
Ferner wäre noch herauszufinden, ob und auf
welche Weise das Thema „Menschen mit Behinderung“ in den verschiedenen
Ausbildungsrichtungen eingeschlossen ist, gegebenenfalls ist eine Einbindung
anzuregen. Ein/e TherapeutIn sollte zumindest aufmerksam machen können, was zu
tun ist, wenn dieses Thema in der Therapie auftaucht (z.B. „Meine Nichte hat
ein behindertes Kind – schrecklich!“).
Das heißt aber auch, bei direkter, aber nicht
so augenfälliger Betroffenheit einer KlientIn
trotzdem einen Verdacht -zu mindest für sich selbst-
formulieren zu können, (z.B. ist eine mittelgradige
Hörbehinderung oft dem äußeren Anschein nach gut kompensiert, sozial und
psychodynamisch aber dennoch hochwirksam!!!)
In der psychotherapeutischen Ausbildung sollten
einige Einheiten zum Thema und ein Praktikum als Selbsterfahrung integriert
sein.
Letztlich wollen wir noch betonen, dass es uns
nicht um die Errichtung eines neuen Faches oder Zertifikates geht.
Wir wollen den KollegInnen, die diesen
Arbeitsbereich mit einbeziehen, Hilfestellung geben, und –soweit noch nicht
vorhanden- auch den Ausbildungsvereinen Möglichkeiten geben, das Thema gut in
die Ausbildung zur Psychotherapie zu integrieren.
Wir wollen auch benachbarten beteiligten
Berufen diese aus psychotherapeutischer Sicht notwendigen Fakten erschließen.
Nicht zuletzt wollen wir allen am Thema
Interessierten beruflichen und auch persönlichen Austausch ermöglichen.